Klopfte einer in Italien und fragte nach der Moral, müsste er erst einmal die Gegenfrage beantworten: „Welche?“ Es gibt nämlich, wenn der Fragende auch nur Privates meinte, zwei davon, und das hat etwas mit dem Meer zu tun. Wo der Nordmensch Doppelmoral sähe, steht allerdings ein Weltensystem.
Im Winter, wenn die Tage, weil es in den Städten, ob Nord oder Süd, ja nicht schneit oder wenn doch, das eine Calamità naturale ist, mürrisch und feucht zwischen Schulen und Büros in überfüllten Bahnen dahinziehen, geht es eher schlecht gelaunt und verschlossen zu. Ab Allerheiligen leben Keuschheit und Treue eine Hochzeit.
Im Sommer aber geht es ans Meer, von Schule und Uni aus auch zwei bis drei Monate lang, und da, Richtung Strand, haben, wie sie berichten, Jungs und Mädels ihren Spaß (mi diverto). Alle laufen fast nackt herum und was eine oder einer da so treibt, kann keiner kontrollieren. So entsteht das Missverständnis, nicht nur italienische Männer und Jungs, sondern auch Frauen und Mädchen seien lustig. Sind sie nicht; sind sie nur etwa von Juli bis September. Dann vergessen sie, was auch immer sie im Sommer getrieben haben. Sommerlieben auch sind da zu Ende, was ein deutscher Romantiker beizeiten bedenken sollte. Was bleibt, ist nicht amore, nur eine vage Erinnerung von Salz, Wasser, Sonne und naja, Sommergschichten. Im folgenden Jahr sind sie wieder da, nämlich nicht, wie abenteuerlichst welterfahrende Deutsche, einmal auf Mallorca, dann auf Lanzarote und am Ende in Hurghada, sondern immer am selben Ort, selben Strand, wo sich dieselbe Gruppe wieder findet. Es ist eben eine rechte Zweit- oder Gegenwelt, das da am Meer.
Diese Sommerwelt bauen Bianconi und Dimartino im Refrain auf.Da ist ein Mädchen aus Rom
Das kommt jedes Jahr
Trägt einen Strohhut
Sie vertraut mir
Aber dann trägt der Winter sie fort
Und jedes Mal, wenn sie mich verlässt
Vergisst sie, dass wir
Uns mit Blut und Sand schmutzig gemacht haben
Und dann haben wir die Welt hinter uns gelassen
Heute sind wir nur eine Geschichte vom Meer
Blut? Ein wenig nach Mythos soll es klingen hier, Sommermythos. Steckt mehr in diesem Moment am Meer? Im Strophentext lädt sich das Bild auf: Odysseus ist da, auch wenn der Hund heut ihn nicht erkennt, Salzstatuen, die Zyklopen gar.
Haus am Steilhang überm Wasser
Glassplitter, Korallenstücke und Muscheln
Am Kai steht ein Hund, der Odysseus anbellt
Und das, was von der Zivilisation übrig ist
Ein Motorboot, mit Blumen bemalt,
Zeichnet einen Weg, der die Möwen tötet
Die Salzstatuen, von Kindern gemacht
Die fegt der Wind weg, der kommt und geht
Die Insel von Schwertfischen
Zyklopen, die unter den Vulkanen ruhen
Massentourismus
Tourismus und Strömung
Von Leuten, die kommen
Die dann wieder gehen
In wunderbarer Symmetrie fließen Meer und Menschheit hin und her, steht die Meerwelt der Touristen von heute im Einklang mit Vorwelt.
Da ist ein verlorenes Mädchen
Lächelt jedes Jahr
Zeigt im Himmel auf den Stern
Den sie für mch ausgesucht hat
Nein, ich kann den Winter wirklich nicht ertragen
Und jedes Mal, wenn sie mch verlässt
Vergisst sie, dass wir
Uns die Hände mit Blut und mit Sand schmutzig gemacht haben
Und dann haben wir der Welt den Rücken zugewandt
Inzwischen
Und jedes Mal, wenn
der Winter uns vergisst
das Wasser, das Blut
das Paradies, das wir erfunden haben
und das jetzt hingegen
nur eine Geschichte vom Meer ist
Der Welt den Rücken zugewandt, erfahren wir: Sand, Blut, Glück, Liebe, Ewigkeit, bis September. Ein wenig wie Odysseus in Calypso.
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