Menschen, die nicht auf dem Lande aufgewachsen sind, erkennt man daran, dass sie sich das süß vorstellen, so als Kind über die Wege, die Wälder und durch Felder zu springen. Sie kennen nämlich die Angst nicht, die so ein Kinderleben auf dem Lande begleitet.
Unsere Kurzform:
Ich will dir was erzählen
Von der Muhme Rehlen
Von der Muhme Kinkerlitzchen
Die hat nen Floh im Hemdlein sitzen
Muhmen waren offensichtlich sowas wie die zahllosen robusten Tanten, die aus den Nebeln der westfälischen Verwandtschaft meiner Mutter immer mal auftauchten und wieder verschwanden. Die Kornmuhme aber ist ein fremdes Wesen, meist mit riesigen Brüsten oder Zitzen und langen struppigen Haaren gezeichnet. Sie treibt in Kornfeldern ihr Wesen, lässt das Korn gedeihen, wenn sie froh, oder verdorren, wenn sie sauer ist, aber vor allem lauert sie auf uns Kinder, wenn wir es wagen, ins Feld zu laufen. Da, hoch steht das Korn und dunkel ist alles vor und hinter uns, nähert sie sich von hinten, packt, würgt, frisst? vernichtet uns. Beklemmend ist daher die Angst, wenn ich hinter den andern, weil es nicht anders geht, den verbotenen Weg durchs Feld einschlage.
Wenn ich in Milano, wo ja auch fast alle vom Lande stammen oder dem, was davon übrig ist, nach solchen Wesen fragte, bekam ich keine Antwort, bis einmal eine junge Dame aus Friaul sagt, ja, so eine wie die Kornmuhme gäbs bei ihnen auch. Natürlich! Norditalien und die deutschsprachigen Länder haben doch ähnliche Traditionen, von der Butter bis zur Sau, die man durchs Dorf jagt. Herr Capossela findet so etwas auch im Süden. Wo immer Korn wächst, lebt offenbar eine Kornmuhme.
Die allgemeine Unwissenheit hat etwas damit zu tun, dass die in Italien, wie Pasolini schon beklagte, nicht nur ihre Dialekte aufgegeben haben und jetzt alle reden wie Paola Perego vom Fernsehen. Sie haben dabei auch alle Kinderlieder vergessen und alle alten Geschichten, wenn sie nicht über den Schirm wieder ins Haus und in den Kopf flimmern oder flattern.
Vinicio Capossela hat mit “Le canzoni della cupa” etwas von Erdhaltigkeit italienischer Bilder wieder belebt. Cupo heißt düster, la cupa ist als ein dunkles Gässchen vorzustellen, auch wenn die Lieder „della cupa“ von Vinicio Capossela zur Hälfte sonnenbeschienener daherkommen. Was sie alle auszeichnet, ist das Spiel mit der bäuerlich-folkloristischen Tradition. Das ist, nachdem die verdeckt
oder verschüttet worden ist, außer samstagnachmittags auf Rai 3: „Ich habe gehört, Sie machen hier eine ganz besondere Salami?“, verdienstvoll.
La Bestia kann das Tier sein oder die Bestie, hier letzteres, die Kornbestie.
„Uhsss fang die Kornbestie!
Uhss jag die Kornbestie!
Uhsss fang die Kornbestie!
Uhss jag die Kornbestie! Aèhh!
Fessle die Bestie ans .hrenbündel
Dass sie für unseren Ruin bezahlt
Halt sie fest, halt sie gut
Fessle sie an die letzte Garbe
Sie soll den Preis für die letzte Ernte zahlen! Aèhh! Aèhh!
Mähe, mähe mit der Sichel
Schrei aus voller Kehle
Denn wer schreit, der lebt noch!
Denn wer schreit, ist nicht tot! Aèhh! Aèhh!
Ist sie ein Fuchs? Ein Käuzchen? Eine Wachtel? Ein Wolf?
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durchs Korn
Ist sie ein Hase? Eine Gans? Ein Wolf?
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durch die goldene Decke
Versteckt vor dem Kuss der Sonne
Läuft sie durchs Feld
Schneid ihr den Kopf ab, der Kornbestie
Fessle sie ans .hrenbündel
Es ist die letzte Garbe
Sie soll den Preis für die letzte Ernte zahlen
Die soll noch einmal wiederkehren
Wieder gedeihen, jetzt, wo sie tot ist“.
Nun wird es süditalienisch. „La controra“ wäre die „Gegenstunde“, was ja recht teuflisch klingt. Am Ende des Liedes taucht gar der Mittagsdämon auf. Die Sonne im Süden ist eben nicht unsre „liebe, liebe Sonne“, wird nämlich gern einmal höllisch, mittags, wenn Siesta angesagt ist, weil arbeiten unmöglich. „È l’ora della controra“ wäre also nett als “Es ist Mittagszeit” zu übersetzen, aber eben auch als:
„Es schlägt die Gegenstunde
Die Sonne ist schwarz geworden
Alles wird so müde
Es schlägt die Gegenstunde
Der Wille ist geleert
Gefüllt mit Trägheit und Lust
Die Tür ins Jenseits geht auf
In der Gegenstunde
Schrei löaut, Mäher
Schrei laut und verjag den Tod
Kuta kuta kuta kutà… Vicc’ vicc’… Yuuhh!
Uhsss fang die Kornbestie!
Uhss jag die Kornbestie! Aèhh!
Uhss jag die Kornbestie! Aèhh!
Der letzte soll sie kriegen
Der kriegt die Garbe der Schuld
Der Mäher der Schandtat
Kriegt die Schuld fürs zerstörte Feld, Aehh!
Die Sichel nimmt das Leben
Auch die Erde trägt Trauer
Der Tod holt den Samen
Er bringt ihn ins untere Reich! Aehh! Aehh!
Das Leben soll ins Kprn zurück
Dahin zurück, wo es weggenommen wurde! Aehh! Aehh!
Uhsss fang die Kornbestie!
Uhss jag die Kornbestie! Aèhh!
Ists ein Fuchs! Ein Hahn? Ein Hase? Ein Wolf?
Sie schweift durchs Korn
Ists eine Gans? Ein Hahn? Ein Hase? Ein Wolf?
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durchs Korn
Eine Gans? Eie Wachtel? Ein Wolf?
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durchs Korn
Sie schweift durchs Korn
Es schlägt die Gegenstunde
Es schlägt die Gegenstunde
Des Mittagsdämonen
Wenn das Leben durch die Finger rinnt
Es ist die Mittagszeit (oder: Süditaliens)
Die Lebende und Tote durcheinander wirft
Wie sich der Schatten von den Fü.en trennt
Es ist von oben auf der erde weg
In der Gegenstunde
Schrei laut Mäher
Dass du ein Lebender bist und kein Toter“.
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