Ein "Romantiker in Mailand", das klingt seltsam im Lande, wo alle anderen Städte sich als romantisch verkaufen, nur eben die nicht. Da fragt man seine Mutter: Mamma / che ne dici di un romantico a Milano? Ein Romantiker in Milano, was sagst du dazu?
Ein Romantiker hier? Da muss zunächst weg, wer in italienschen Schulen als Romantiker verkauft wird, jedoch ein katholischer Retro-Realist ist, nämlich der Nationalschriftsteller Alessandro Manzoni, der auch in Milano gewohnt hat. Es gibt schließlich noch den anderen Manzoni, Piero, welcher von hier in den Sechzigern sehr erfolgreich Merda d'artista, Künstlerscheiße in Dosen verkaufte. Der sei ihm lieber, meint der Sänger, nämlich vero, authentisch: fra i Manzoni preferisco quello vero: Piero. Nun, Ausdruck dieser Stadt, könnte das sein? Denn was haben wir da? Einen Exhibitionisten oder Grabscher im Corriere, die Zigeunerin im ehemaligen Künstlerviertel Brera, heute eher was für teure Tussis und ihre zahlenden Typen und für Touristen. Lies, leggi / c'è un maniaco sul 'Corriere della Sera' / la sua mano per la zingara di Brera / è nera. "Lauf weg!" Fuggi! Aber es geht nicht, kein Fluchtweg da: cosa fuggi non c'è modo di scappare, gefangen in Gebräuchen der Stadt: "ich hab Fieber, aber ich lad dich ein, was zu trinken", ho la febbre ma ti porto fuori a bere / non è niente stai tranquilla è solo il cuore, es ist ja nur das Herz. In Porta Ticinese, zweite Ausgehzone, regnets, aber die Sonne scheint: porta ticinese piove ma c'è il sole. Gesprächsbrocken? Beobachtungen? Es ist kein Wohlfühlen darin. Der Dandy stirbt denn auch, heißt es schließlich, und in dem Moment blühe draußen eine Blume auf: quando il dandy muore fuori nasce un fiore / le ragazze fan la fila per vedere / la sua tomba, "die Mädchen stehen Schlange, um sein Grab zu sehen, auf dem geschrieben steht", con su scritte le parole / "io vi amo / vi amo ma vi odio però / vi amo tutti / è bello è brutto io non lo so. "Ich liebe euch / ich liebe euch aber ich hasse euch doch / obs schön ist oder hässlich, weiß ich nicht". Das amo wird mit falschem Akzent auf dem o gesungen, Affektation ist dem Sänger auf die Stirn geschrieben. Natürlich, der Dandy. Aber für wen singt er das alles? Ein Hörer müsste ja mindestens den jüngeren Manzoni kennen und verstehen, wie sich der Dandy bewegt. Im Liede "Baudelaire" derselben Gruppe, übrigens meistens Baustell ausgesprochen oder Beau stelle, ist ja ein französisches Wort, war es schon überdeutlich gewesen. Das sind Texte für Absolventen höherer Bildungsanstalten.
Satan sei in der Hölle für uns, singen sie füpr Baudelaire, Christus und Petrus seien am Kreuze gestorben für uns und die Schönheit sei heilig: Cristo muore in croce per me / Pietro brucia in croce per te / Santa è la bellezza / Tanta è la paura, "groß ist die Angst". Und nun werden noch Pasolini, Caravaggio, Sappho und Sokrates genannt, auch Luigi Tenco, ein Schlagersänger, der in San Remo Selbstmord begangen hat, und Piero Ciampi, ein großer, aber vergessener Cantautore aus Ligurien , bekannt für sein Adius, wo er nach leidend-kitschigem Anfang die Geliebte zum Teufel schickt, oder genauer: in den Arsch, a vaffanculo.
Das Lied der Baustelle aber enthält als Rat, man müsse schreiben, nach dem Unbekannten streben und vor allem Baudelaire gründlich lesen: Bisogna scrivere / Verso l'ignoto tendere / Bisogna studiare Baudelaire, Baudelaire, Baudelaire..
In Deutschland wäre dergleichen kaum möglich. Diese Lieder stießen im Lande, wo einer in der Oberstufe drei Bücher liest, darunter seit vierzig Jahren den Homo Faber, kaum auf Verständnis. In Italien liest man für die und in der Schule, auch in den Ferien! vielleicht dreißig, zuzüglich einer dreibändigen Literaturgeschichte, und da darf einer bedeutende Namen nennen. Die Tocotronic richten sich ja im Norden an ein vergleichbares Publikum. "Verschwör dich gegen dich" ist, mit seiner Aufforderung zur Rückbesinnung in sich, ja des Kampfes gegen sich, in den Bildern auch ein direkt oder indirekt von der Stoa und den Ritterlegenden beeinflusstes Lied. Aber es werden dort keine Namen genannt. Das hätte in Deutschland keinen Sinn. So oder so sind solche Gruppen ein Trost, wo der Geist aus dem alten Europa entweicht. Irgendwo weht und webt er eben doch immer noch.
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